DIE DEMOKRATISCHE GEFAHR!
by Fabian Eder
VON ROBERT MENASSE
Am 6. Mai 2010, gewissermaßen am Vorabend des Finanzkrisengipfels des Europäischen Rats, erlebte ich im ruhigen, eleganten Café Cirio in Brüssel folgendes: fünf deutsche Touristen, befeuert von belgischem Starkbier, begannen dröhnend über “die Griechen” zu schimpfen. Es wurde unangenehm, nicht nur wegen der Lautstärke, sondern wegen der abfälligen und beleidigenden Klischees, die sie von sich gaben. Brüssel ist eine polyglotte Stadt, sie ist schon viel weiter dorthin fortgeschritten, wo Europa hin will, weshalb Europa heute in Brüssel gut aufgehoben ist. Der Kellner geht hin und sagt auf Deutsch: “Sie wollten zahlen?” Ein Deutscher: “Nein. Wir haben keine Rechnung bestellt. Wir bleiben noch!” Der Kellner: “Das können Sie drüben im Ratsgebäude erzählen. Hier müssen Sie zahlen und bitte gehen!”
Das war natürlich kein nationalistischer Reflex des Kellners gegen „die Deutschen“, gegen ihr physisch aufstampfendes Klischeebild, sondern ein kühles Statement zum demonstrativen Nationalismus dieser Deutschen gegen „die faulen und korrupten Griechen“. Bemerkenswert dabei, dass der Kellner, durch seinen Verweis auf den Rat, das Verhalten der deutschen Touristen in Beziehung zur deutschen Europapolitik setzte – die damals schon seit Wochen allerorten diskutiert wurde.
Es ist tatsächlich keine simple Aktualisierung eines alten Klischees, wenn man feststellt: So viel Nationalismus wie jetzt leisteten sich Deutsche schon lange nicht mehr – eine Haltung, die doch, gemäß der Legitimationsideologien der EU, im Zuge des Zusammenwachsens Europas nach und nach verschwinden sollte. Es war und ist die deutsche Politik, die seit Monaten (weniger deutlich sichtbar, aber rückblickend erkennbar, bereits seit Jahren, seit Ende der Kohl-Ära) europäische Probleme zu Problemen der Nationalstaaten erklärt, des griechischen, italienischen, portugiesischen und so weiter, und es ist die deutsche Politik, die aus einer europäischen Institution, dem Rat, besonders unbeirrt und konsequent ein Gremium zur Verteidigung nationaler Interessen macht.
In ein Bündnis von Nationalstaaten seine nationalen Interessen einzubringen, der Anspruch, sie in einem nachnationalen Prozess aufzuheben, kann vernünftig und notwendig sein. Dabei müsste man allerdings diskutieren, was in einem solchen Prozess nationale Interessen sinnvollerweise wären: etwa der Anspruch, die in einem Nationalstaat bereits erkämpften und durchgesetzten Standards von demokratischer Partizipation, Bürgerrechten, sozialem Ausgleich, Umweltschutz etc. auf höherer Ebene nicht zurückzulassen. Aber diese Diskussion wurde nie wirksam geführt, im Gegenteil: die politischen und wirtschaftlichen Eliten haben just diese Standards zum Schaden der eigenen Bevölkerung systematisch gesenkt, immer wieder auch mit der apodiktischen Begründung, dass dies für die europäische Integration unabdingbar erforderlich und „ohne Alternative“ sei.
Das war problematisch genug (wenn auch hochprofitabel für die deutsche Industrie), unterschied sich aber nicht wesentlich von der Wirtschafts- und Sozialpolitik einiger anderer Mitgliedstaaten der EU. Einzigartig und skandalös aber ist, auf welch schamlose und geschichtsvergessene Weise die deutsche Regierungspolitik zusammen mit einigen Massenmedien jetzt den Popanz eines Sündenbocks aufbaute, nachdem die durch solche Politik verschuldete Misere unerträglich und unübersehbar wurde. Nach den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach dem Schock, der Zerknirschung und der „Nie wieder!“-Rhetorik von 1945, und nach dem jahrzehntelangen Engagement für ein geeintes, friedliches, nachnationales Europa, hätte man es nicht mehr für möglich gehalten, dass in Deutschland heute so schnell, so wirksam, so fanatisch ein Feindbild produziert werden kann, das vom Industriellen bis zum Hartz-4-Empfänger nahezu alle in nationalistischem Hass zu einer „Volksgemeinschaft“ vereint, die mit allen Mitteln den „fremden Parasiten“, der am „gesunden deutschen Volkskörper“ schmarotzt, bestrafen will.
Es ist fast aussichtslos, erklären zu wollen, dass mir dies mehr Angst macht, als die Schulden Griechenlands oder die Haushaltsdefizite in anderen Ländern. Denn jeder, der von den Schulden Griechenlands entsetzt ist und die unabsehbaren Folgen fürchtet, die diese auf Wohlstand und sozialen Frieden in Europa haben werden, wird einwenden, dass dieses Finanzproblem ein objektiver Sachverhalt sei, an dem auch eine andere Stimmung in Deutschland nichts ändern würde. Im Gegenteil, man müsse nach den harten Jahren, die der deutschen Bevölkerung von Hartz 1 bis 4 abverlangt worden waren, verstehen, wenn sie nun gegen weitere Zahlungen rebelliert, die noch dazu zur Rettung eines anderen Landes notwendig sind, das nicht „so gut gewirtschaftet“ hat wie Deutschland.
Dagegen könnte man ins Treffen führen, dass – und wird den Einwand hören: ja aber – und immer so weiter, das führt zu einer Pendelbewegung der Argumente, die bald ins Esoterische führen, nämlich ins bloße Auspendeln, aus dem jeder Wahrsager seine Wahrheit herauslesen kann.
Aber auf welche Weise auch immer man die Haushaltsdefizite einzelner Euro-Länder interpretiert, und unabhängig davon, ob man die Schritte, die nun zur Bewältigung der Krise gesetzt werden, als ausreichend oder ungenügend einschätzt, ein wesentlicher Aspekt des Problems geht bei dieser Debatte völlig verloren: das ist der Sachverhalt, dass die gegenwärtige Krise und der Umgang mit ihr im Grunde an as letzte große Tabu der, ihrem Selbstverständnis nach, aufgeklärten Demokratien rührt. Dieses Tabu ist die Demokratie selbst, die Organisationsform von demokratischer Legitimation, im Besonderen der europäischen Politik. Das Problem zeigt sich deutlich, wenn man es sehen will, im Systemgefüge der Europäischen Union. Wenn man dieses näher betrachtet, kommt man zu dem Punkt, an dem man unweigerlich erschrickt: kann es sein, dass Demokratie, so wir sie nach 1945 mühsam und ungenügend gelernt haben und wir sie gewohnt sind, auf supranationaler Ebene gar nicht funktionieren kann – im Gegenteil: dass die „aufgehobene“ Demokratie dort, wo sie noch Geltung beansprucht, das Problem ist, dessen Lösung wir mit wachsender Hilflosigkeit von ihr erwarten?
Bevor ich dies ausführe, muss ich eines vorausschicken: Ich hatte, bevor ich nach Brüssel kam, Vorurteile in Hinblick auf die EU, keine dramatischen, es waren die Urteile, die ich eben vorher hatte, die natürlichen Ambivalenzen eines aufmerksamen Zeitungslesers, der sich als kritischer Zeitgenosse versteht: Niemand wird die Sinnhaftigkeit der Idee des europäischen Projekts in Frage stellen, nämlich die historischen Feindschaften zwischen den europäischen Nationalstaaten, die zu mörderischen Kriegen und letztlich zu Auschwitz geführt haben, zu überwinden und dauerhaften Frieden in Freiheit auf diesem Kontinent zu schaffen. Eine Idee, noch so schön und vernünftig, sagt allerdings noch nichts über die Organisationsform aus, in der sie sich tunlichst entfalten soll. Es ist ein Faktum, dass es zwar allesamt demokratische Staaten sind, die sich in der EU zusammengeschlossen haben, Faktum ist aber auch, dass sie dabei demokratische Standards, die in den Nationalstaaten erreicht waren, auf supranationaler Ebene verloren, wenn nicht sogar bewusst preisgegeben haben. Niemand, auch nicht der glühendste Verfechter der „Europäischen Idee“ kann dies leugnen. Das also begründete meine Ambivalenz: dass die Europäische Union eine schöne Idee in einem System zu verwirklichen versucht, das diese Idee unterhöhlt, weil darin die Demokratie versickert – und dass dies zu hinterfragen sei. Der Lissabon-Vertrag hat zwar einige Verbesserungen gegenüber dem Vertrag von Maastricht gebracht, aber die demokratiepolitischen Rückschritte und Defizite nicht nur nicht ganz ausgeräumt, sondern einige geradezu in Stein gemeißelt. Ein Beispiel: Man kann von entfalteter Demokratie nur sprechen, wenn Gewaltenteilung existiert. Das ist fundamentaler Bestandteil des Demokratie-Begriffs, wie er seit der Aufklärung entwickelt, unverzichtbares Element der Demokratie in der Praxis, wie sie erkämpft, oder, wie in Deutschland und Österreich: uns geschenkt wurde. In der EU allerdings ist die Gewaltenteilung aufgehoben. Das Parlament ist zwar gewählt, hat aber kein Gesetzesinitiativrecht (oder jetzt, nach Lissabon, nur durch die Hintertür). Das Initiativrecht hat die Kommission. Bei der Kommission fallen dadurch Legislative und Exekutive zusammen. Die Situation ist also vordergründig diese: Das Europäische Parlament ist demokratisch legitimiert, die Abgeordneten sind in ihre Funktion gewählt. Allerdings sind die Rechte und Möglichkeiten dieses Parlaments beschnitten. Der Rat, also die Versammlung der europäischen Regierungschefs, ist immerhin noch indirekt demokratisch legitimiert, weil die Regierungschefs als SpitzenkandidatInnen bei nationalen Wahlen gewählt worden sind. Die Kommission aber ist die Institution, in der die demokratische Legitimation am Ende ausgehebelt wird: hier arbeitet ein nicht gewählter und nicht abwählbarer Apparat, der die Gewaltentrennung aufgehoben hat, repräsentiert durch Kommissare, die selbst nur noch doppelt indirekt, also geradezu homöopathisch in ihrer Funktion legitimiert sind: indem sie nominiert werden von Regierungen, die nur national legitimiert sind und über den Rat, in dem sie das Mandat zur Verteidigung nationaler Interessen haben, europapolitische Geltung beanspruchen. Demokratiepolitisch produziert diese Trias von Parlament, Rat und Kommission also ein schwarzes Loch, in dem das, was wir unter Demokratie verstanden, verschwindet, und ich dachte also, dass – bei allen erlebbaren Fortschritten des Projekts Europa, wie Wegfall der Grenzen, Niederlassungsfreiheit, gemeinsame Währung – diese tendenzielle Abschaffung der Demokratie ein Skandal sei, und dass sich Engagement für die europäische Idee in der Kritik dieses Skandals erweisen müsse.
Dann kam ich nach Brüssel. Ich habe mich nun wochenlang in den langen Korridoren der EU-Verwaltung, in den Arbeitszimmern und Sitzungssälen der vielgeschmähten EU-Bürokratie herumgetrieben, mit zahllosen Beamten im Berlaymont-Gebäude der Kommission und im Justus Lipsius-Gebäude des Rats und mit Abgeordneten des Parlaments Gespräche geführt, mir erklären lassen, wie und woran sie arbeiten, und ihren Arbeitsalltag beobachten können. Das hat die Ambivalenzen, die ich hatte, nicht ausgeräumt – es hat sie auf den Kopf gestellt: Ich habe im Beamtenapparat der Kommission bestens qualifizierte, europäisch denkende Menschen kennen gelernt, die in verwunderlicher Effizienz eine hochkomplexe Maschinerie zur Produktion von Rationalität bedienen. Wären diese Menschen abhängig von den Stimmungen in ihren Herkunftsländern, gar diesen verpflichtet, würden sie sich treiben lassen von den Peitschenhieben nationaler Medien, die gebieterisch die Begehrlichkeiten nationaler Eliten aus Wirtschaft und Politik als Volksmeinung vorformulieren, sie würden in kürzester Zeit nur noch unproduktive, wenn nicht gemeingefährliche Widersprüche produzieren. Tatsächlich aber bilden die Kabinette der Kommissare, die Generaldirektionen, die Arbeitsgruppen und die Ausschüsse einen aufgeklärten Beamtenapparat, den man füglich als josephinistische Bürokratie bezeichnen muss, die unbeirrt auch von der Rückständigkeit weiter Teile der Populationen der EU-Mitgliedsstaaten, von deren Ressentiments und untertänigen Sehnsucht nach autoritären Führerfiguren rationale Verordnungen und Richtlinien ausarbeiten. (Ich will diese Beobachtung und das, was ich davon ableite, bloß zur Diskussion stellen. Ich beharre nicht darauf, ich kenne die Einwände, ich habe sie selbst!)
Die Menschen, die in dieser Bürokratie arbeiten, also dort, wo ein Defizit demokratischer Legitimation festmachbar wäre, sind ein Glücksfall vernünftiger Elitenbildung, Frauen und Männer, die in der Regel hoch gebildet und bestens ausgebildet sind, weltoffen, mobil und polyglott. Sie haben sich mit einer Energie, die mir apathischen Träumer ehrliche Bewunderung abverlangt, einem schwierigen, dreistufigen Concours gestellt, bei dem im Schnitt von zwanzigtausend Bewerbern am Ende rund hundert die Chance haben, einen Job in diesem Apparat zu bekommen, in dem eben kein Nepotismus und keine politische Protektion hilft. Hier stellt sich plötzlich, und, wie ich meine, begründet, die Frage, was eigentlich gewonnen wäre, wenn dieser aufgeklärte Apparat in stärkere Abhängigkeit von klassischen demokratisch legitimierten Instanzen käme? Die Regierungschefs, die im Rat sitzen, haben weder den Mut, ihren Wählern die Wahrheit zuzumuten, noch (in der Regel) die politische Größe, über die Legislaturperiode hinaus zu denken. Und in Wahrheit ist die demokratische Legitimation des Rats schon grundsätzlich bloße Chimäre: die Regierungschefs, die den Rat bilden, sind als SpitzenkandidatInnen nationaler Parteien bei nationalen Wahlen gewählt worden, und kein Wähler hat seine oder ihre Wahlentscheidung davon abhängig gemacht, welche der nationalen KandidatInnen bestmöglich supranationale Entscheidungen treffen kann. Im Gegenteil: es wurden nationale Interessen an Menschen delegiert, von denen erwartet wird, dass sie diese und nur diese vertreten. Zu sagen, dass die gewählten Repräsentanten nationaler Interessen automatisch mitlegitimiert sind, wenn sie nach Brüssel fliegen, wie durch Zauberei gleich auch als Repräsentanten supranationaler Vernunft aufzutreten, ist – vorsichtig formuliert – sehr gutmütig theoretisch. Es sind vordergründig demagogisch die Interessen der Wähler in den Nationalstaaten, hintergründig machtvoll die Interessen nationaler wirtschaftlicher Eliten, die im Rat ausverhandelt werden und zu surrealen, kurzsichtigen Entscheidungen führen, die in kürzester Zeit neue Probleme produzieren, zu deren „Lösung“ sich der Rat wieder zusammenfindet. An der deutschen Europapolitik der letzten Jahre im Rat kann man dies besonders deutlich sehen: Als Deutschland im Jahr 2005 die festgelegte Grenze der Haushaltsneuverschuldung von 3% deutlich überschritt, sorgte es (gemeinsam mit dem ebenfalls höher verschuldeten Frankreich) dafür, dass die Bestimmungen des Stabilitätspakts gelockert werden, um einer Mahnung durch die Kommission zu entgehen. Jetzt, da sich der deutsche Haushalt wieder einigermaßen stabilisiert hat, aber die Folgen der aufgeweichten Stabilitätsbestimmungen sich in ganz Europa drastisch bemerkbar machen, will Deutschland die harten früheren Bestimmungen noch härter zurück.
Als die Kommision vor zwei Jahren die Finanzkrise analysierte, die sich in Konsequenz der deutschen Politik deutlich abzuzeichnen begann, wurde der erforderliche Betrag zur Bewältigung der Krise auf 250 bis 300 Milliarden geschätzt. Zusammen mit der Neuimplantierung von Kriterien, die gar nicht so weit gegangen wären, wie es heute von Deutschland gefordert wird, wäre die Krise damit ausgestanden und ihre brutalsten Auswirkungen verhindert gewesen. Das hätte Deutschland damals nach dem Staatenschlüssel rund 60 Milliarden gekostet. Aber Deutschland legte sich quer. Das Ergebnis ist heute sichtbar – und wird der Bundesrepublik jetzt ein Vielfaches kosten. Aber ist das ein Grund, um nationalistische Ressentiments gegen „die Griechen“ zu schüren?
Das griechische Defizit beläuft sich auf weniger als zwei Prozent des BIP der EU. Dieses Problem soll europäisch nicht lösbar sein? Die Schulden Kaliforniens sind größer, aber nirgendwo lese oder höre ich von der Panik, dass es die USA deshalb zerreißen könnte. Entgegen der Konzepte der Kommission und gegen die Bedenken fast aller europäischen Staaten setzte Deutschland aber durch, dass zur Rettung des EURO die USA in Gestalt des IWF ins Boot geholt wurden, jener IWF, dessen Bedingungen und Auflagen bereits das stolze und reiche Argentinien in den Bankrott geführt hatten. Als die deutschen Banken krankten, machte Frau Merkel ohne viel Federlesens 400 Milliarden locker, aber bei der selbst mitverschuldeten Stabilitätskrise der europäischen Währung konnte sich Frau Merkel wochenlang nicht dazu durchringen, ihre Zustimmung zu einem Rettungspaket zu geben, das den 15 Euroländern zusammen 120 Milliarden gekostet hätte. Noch schlimmer: daheim, wo sie gewählt wurde und wo sie noch eine Regionalwahl vor sich hatte, bei der sie die Wut des „deutschen Steuerzahlers“ fürchtete, versuchte sie nicht einmal zu kommunizieren, dass es sich bei dieser Summe nicht um ein Geldgeschenk für ein anderes Land, sondern bloß um Kreditzusagen handelte. Als die Wahlen in Nordrhein-Westfahlen und Frau Merkels Partei endlich geschlagen waren, verknüpfte sie die Hilfe für Griechenland mit deutschen Rüstungsgeschäften in Griechenland. Mit anderen Worten, sie leistete eine Hilfe, die wiederum nur profitabel für die eigene Exportindustrie ist, und stellte in den Raum, dass es ja jedem Land freistünde, ebenfalls „Exportweltmeister“ zu werden. Was ist das für eine Europapolitik, die auf der einen Seite Verhandlungen mit der Türkei in Hinblick auf einen möglichen EU-Beitritt führt, und zugleich ein auf dem Boden liegendes EU-Mitgliedsland zu einer teuren militärischen Aufrüstung gegen die Türkei zwingt? Wenn Griechenland so korrupt ist, wie es die deutsche Regierung von deutschen Medien hinausposaunen lässt, müssen dann diese Waffengeschäfte nicht auch nur durch immense Schmiergeldzahlungen zustande gekommen sein? Es kann nicht Staatsaufgabe sein, schon gar nicht eine deutsche, für Rechtssicherheit bei schmutzigen Geschäften und Aufrüstung zu sorgen.
Und so weiter und immer so weiter. Das also ist es, was wir von „demokratisch legitimierter“ Politik zu erwarten haben. Aber das Feindbild des „Normalverbrauchers“ (ich würde mich ja weigern, in einem Land zu leben, in dem ich unter diesen Titel subsummiert werde) ist „die aufgeblähte Bürokratie“ mit ihrem „Regulierungswahn“. Allerdings ist die Brüsseler Bürokratie kleiner als zum Beispiel der Beamtenapparat Wiens. Und ja, sie schlägt Regulierungen vor – zum Beispiel eine Regulierung der Finanzmärkte, seit Jahren, es sind Konzepte, die, wenn sie von der Kommission auf den Tisch gelegt werden, bei jedem Ratsgipfel vom Tisch gewischt werden.
Gestern war sich Frau Merkel absolut sicher, dass die Finanzmärkte keiner Regulierung bedürfen, als wäre der kleinste Eingriff in die Freiheit der Spekulanten die größte Bedrohung der Freiheit aller, und heute ist sie sicher, dass einige Regulierungen doch notwendig wären. Gestern war sie sicher, dass der Lisabon Vertrag völlig für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ausreiche, die Einwände der Vertragskritiker wurden ignoriert, der Vertrag wurde demokratisch durch den Bundestag durchgewunken, heute aber ist sie sicher, dass der Vertrag in einigen Punkten doch geändert werden müsse. Wie sicher kann ich mich der Vernunft dessen sein, was Frau Merkel morgen ganz sicher weiß?
Ja, die Demokratie: klingt gut, sie organisiert Legitimation – aber wofür? Internationale Konzerne üben Drück auf nationale Regierungen aus, um ihre globalen Interessen durchzusetzen, und die Regierungen machen diese Interessen zu nationalen Anliegen, mit denen sie die supranationale politische Entwicklung torpedieren.
Das ist der Punkt, an dem man vielleicht bereit sein müsste zuzugeben, dass es heute ein Fortschritt, ein Befreiungsschritt ist, wenn über die Rahmenbedingungen unseres Lebens eben nicht mehr wesentlich durch Volkswahlen abgestimmt wird. Da muss man noch nicht einmal an die Niederungen erinnern, in die sich der Wettbewerb um demokratische Legitimation begibt, wenn Volksparteien um die Stimmen der xenophoben, rassistischen, autoritären Charaktere kämpfen.
In der Kommission gibt es keine finsteren Gestalten, keine Faschisten und Antieuropäer (wie sie heute auch im Parlament sitzen), keine gebeugten Opportunisten (wie in den nationalen Regierungsapparaten), die aber nicht von der Last ihrer Verantwortung, sondern vom Druck der mächtigsten Partikularinteressen gebeugt sind, es gibt in der europäischen Bürokratie keine ressentimentgeladenen Köche eigener Süppchen und keine Kühler von Mütchen. Es gibt vielleicht Zyniker – sie haben Erfahrung. Es gibt sicherlich Missionare – sie haben Engagement für aufgeklärte Anliegen. Es gibt vor allem Pragmatiker – sie nutzen und dehnen jede Möglichkeit, die das jeweilige Kräfteverhältnis bietet. Gemeinsam ist ihnen das aufgeklärte Denken in übernationalen Kategorien. Sie denken weit voraus, in der vor kurzem (mit Abstrichen durch den Rat akzeptierten) Agenda bis 2020, in der „Groupe de reflexion“ bereits bis 2030. Immer mit dem expliziten Anspruch, die sozialen Errungenschaften Europas zu sichern und auszubauen, und eine stärkere wirtschaftspolitische Steuerung durchzusetzen.
Man muss sich einmal von den Beamten erzählen lassen, wie es ist, wenn man etwa seit Jahren an Konzepten zur Bewältigung der Haushaltskrise arbeitet, und zuschauen muss, wie sie regelmäßig von den Regierungschefs im Rat zurückgeschickt werden, damit diese, wenn sie heimkommen, ihren Wählern berichten können, was sie alles zur Verteidigung „nationaler Interessen“ gegen die „böse EU“ durchgesetzt haben. Und jetzt, beim letzten Ratsgipfel, als die Krise einigermaßen dramatisch geworden war, gaben die Regierungschefs der Kommission den Auftrag, ein Konzept auszuarbeiten… Ich würde ja, nach den oben skizzierten drei Beamtentypen den vierten Typus abgeben: den depressiven. Aber die Europäer sitzen am Abend in den Cafés und Restaurant hinter dem Berlaymont-Gebäude, diskutieren – und gehen am nächsten Tag wieder an die Arbeit.
So viele Diskussionen. Und erst hier, aus der Nähe die Konstruktion und Arbeitsweisen der EU beobachtend, kam mir der Gedanke, dass die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhunderts zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja sie behindert. Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Wenn dieser gegen die von Massenmedien organisierten Hetzmassen nicht mehr mehrheitsfähig ist, wird Demokratie gemeingefährlich. Ideologisch legitimiert sich die Europäische Union als „Friedensprojekt“, in dem die einzelnen Staaten immer mehr miteinander verflochten werden und zusammenwachsen. Wenn in der Union aber gegenläufige nationale Interessen institutionalisiert sind und es in allerkürzester Zeit möglich ist, Ressentiments in einem Mitgliedsstaat gegen einen anderen im eben erlebten Ausmaß zu schüren, dann wird der ideologische Baldachin fadenscheinig.
Vielleicht funktioniert ja noch einmal die historische List der Vernunft: mit jeden kleinen Schritt voran auf dem Weg einer nachnationalen Entwicklung müssen die Nationalstaaten und damit auch der Rat an Bedeutung einbüßen. Am Ende wird man die Regierungschefs höflich hinausbitten, wenn eine neue Demokratie sich entfaltet, als Checks and Balances –System zwischen einem echten europäischen Parlament der Regionen und dem aufgeklärten, josephinistischen Beamtenapparat der Kommission.
Auf jeden Fall war es schade, dass Frau Merkel an jenem Vorabend des letzten Ratsgipfels nicht im Café Cirio war. Sie hätte wohl nicht zahlen müssen. Der Kellner, Monsieur Jean, hätte sie hinauskomplimentiert mit den Worten: „Sie sind mein Gast!“